Der rosa Winkel – die schwulen Gefangenen im Zweiten Weltkrieg

VON IRIL SCHAU JOHANSEN

„ALS DIE NAZIS DIE KOMMUNISTEN HOLTEN, HABE ICH GESCHWIEGEN; ICH WAR JA KEIN KOMMUNIST. ALS SIE DIE GEWERKSCHAFTLER HOLTEN, HABE ICH GESCHWIEGEN, ICH WAR JA KEIN GEWERKSCHAFTLER.
ALS SIE DIE JUDEN HOLTEN, HABE ICH GESCHWIEGEN, ICH WAR JA KEIN JUDE. ALS SIE MICH HOLTEN, GAB ES KEINEN MEHR, DER PROTESTIEREN KONNTE.“ - PFARRER MARTIN NIEMÖLLER, KZ-HÄFTLING 1937-1945

Es war ein Sommertag im Jahr 1943, als Gustav nach Bergen kam. Er sollte für eine deutsche Organisation arbeiten, die Bauaufträge in der Stadt hatte. Er fand seine Liebe in Bergen. Die Besatzungsmacht in Norwegen freute sich in der Regel über freundschaftliche Kontakte zwischen Norwegern und Deutschen. Doch als ein Nachbar das Paar anzeigte, erwartete sie alles andere als Freundlichkeit. Denn Gustavs
Freund hieß Charles.

Im Jahr 1943 war es nicht nur verboten, schwul zu sein, es konnte auch gefährlich sein. Norwegen hatte seinen § 213 im Strafgesetzbuch, der es ermöglichte, Männer zu einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr zu verurteilen, wenn ihnen „unzüchtiger Geschlechtsverkehr zwischen Personen männlichen Geschlechts“ vorgeworfen wurde. Nach diesem Gesetz wurden zwischen 1905 und 1950 119 Männer verurteilt. Obwohl das Gesetz für die Justiz kaum von Nutzen war, hatte es eine Formulierung, die vermutlich dazu beitrug, dass homosexuelle Beziehungen verschwiegen und mit
Scham verbunden wurden. Auch waren Homosexuelle brutalerer Gewalt ausgesetzt als andere.

Für deutsche Bürger konnte es weitaus schlimmer kommen. Die deutsche Führung bezeichnete Homosexualität als „ein Krebsgeschwür, das weggeätzt werden müsse“, und 1935 wurde § 175 des deutschen Strafgesetzbuchs verschärft. Von
nun an konnte ein Mann bestraft werden, wenn er einen anderen Mann etwas zu freundlich ansah. Vor Kriegsende waren fast 100.000 deutsche Männer wegen „Verdachts
auf homosexuelle Neigungen“ bei der Polizei angezeigt worden. Viele der nach § 175 Verurteilten wurden mit Gefängnis bestraft. Aber nicht jeder hatte so viel Glück. Zwischen 10.000 und 15.000 schwule Häftlinge wurden in Konzentrationslager geschickt und mit dem Symbol gekennzeichnet, das sie sowohl als Menschen als auch als Häftlinge auf eine der untersten Stufen der Leiter brachte:
der rosa Winkel.

Charles und Gustav wurden im März 1944 in Bergen verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der Norweger Charles erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Die Strafe für den Deutschen Gustav sollte zwei Jahre und
drei Monate betragen. Dies stellte sich später als Todesurteil heraus. Beide wurden in das Gefängnis Neumünster in Deutschland gebracht. Charles blieb dort bis Kriegsende. Er reiste alleine nach Hause. Gustav war in das Konzentrationslager Börgermoor weitergeschickt worden.
Homosexuell zu sein war sowohl in Norwegen als auch in Deutschland illegal, lange bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach. Darüber hinaus wurde es als große Schande
empfunden. Mit „Nacht und Nebel“ bezeichneten die Nazis Häftlinge, die einfach verschwinden sollten, ohne dass jemand etwas über ihr Schicksal wusste. Nacht und Nebel. Deutsche homosexuelle Häftlinge waren in hohem Maße Nacht- und Nebel-Häftlinge.

Für Homosexuelle war es damals bei weitem der einzige Schutz, sich unsichtbar zu machen. Es ging darum, nicht gesehen, nicht bloßgestellt zu werden. Und vor allem
nicht verhaftet oder als psychisch krank abgestempelt zu werden, wie es in Norwegen bis 1977 die offizielle Diagnose von Homosexualität war. Daher entschieden sich die meisten Homosexuellen, die während des Krieges verhaftet wurden, später nicht darüber zu sprechen. Die Scham war zu groß. Als andere Gruppen nach dem Krieg von einem Staat nach dem anderen Entschädigungen erhielten, blieben die schwulen Überlebenden außen vor. Noch 1995 wurden alle Homosexuellen aufgefordert, an dem Friedensmarsch in Oslo, der an den 50. Jahrestag der Befreiung erinnern sollte, nicht teilzunehmen.

Soziale Moral und Schamgefühl haben wahrscheinlich dazu beigetragen, das Schicksal der Gefangenen mit rosa Winkel zu verbergen. Es ist ungewiss, wie viele es waren und was tatsächlich mit ihnen passiert ist. Sie sind einfach verschwunden. Nacht und Nebel. Aber einige haben es gewagt, sie zu erwähnen, und es gibt immer noch Dokumente aus dem Krieg, welche die Ereignisse bestätigen. Im Buch „Der SS-Staat“ beschreibt Eugen Kogon das System in den deutschen Konzentrationslagern. Hier erzählt er von den Farbcodes, mit denen die Gefangenen markiert wurden. Es genügte, der Homosexualität verdächtigt und mit einem rosa
Winkel gebrandmarkt zu werden. Und es reichte aus, einem Mithäftling mit einem rosa Winkel zu helfen, um in den Verdacht zu geraten, schwul zu sein. Wer würde es also wagen? Kogon sagt kurz: Wenn man mit einem rosa Winkel markiert war, ist man fast immer umgekommen. „Medizinische“ Experimente, harte Arbeit, Krankheit und wenig Nahrung sowie einfache Hinrichtungen forderten das Leben dieser Gefangenen.

Einige Gefangene stimmten einer „Behandlung“ zu und retteten auf diese Weise möglicherweise ihr Leben. Die Nazis glaubten, Homosexualität heilen zu können, etwa durch die Kastration des Häftlings. Schaut man sich alte Dokumente aus dem Krieg an, erkennt man schnell das Muster. Zunächst eine Bestätigung des Lagerarztes, der schreibt, dass dem Häftling die Kastration angeboten, sie jedoch abgelehnt wurde. Dann vergehen mehrere Wochen, bis der Gefangene ein Formular mit dem Text unterschreibt: „Hiermit beantrage ich die Kastration.“ Ich beantrage dies freiwillig, um von meinem krankhaften Sexualtrieb befreit zu werden. Wenige Tage nach
diesem „freiwilligen“ Antrag kann der Lagerarzt bestätigen, dass der Häftling kastriert wurde. Zeitzeugen haben berichtet, wie die Gefangenen in den Wochen von der Verweigerung der „Behandlung“ bis zu ihrer Unterschrift, dass sie kastriert werden wollten, misshandelt und gefoltert wurden.

L. D. Classen von Neudegg gehörte zu den schwulen Häftlingen, die den Krieg überlebten und es wagten, als Zeuge aufzutreten. Er erzählte, wie „Homosexuelle langsam
gefoltert und ermordet wurden, mit den bestialischsten Methoden, die man sich vorstellen kann“. Etwa als der Lagerkommandant ankündigte, dass 300 „perverse
Schweine“ ausgesondert werden sollten, um sie für Experimente mit Phosphor an lebenden Menschen zu benutzen. Man wollte beobachten, wie Verbrennungsschäden
durch Phosphor entstehen und mögliche Behandlungsmethoden testen. Es liegen daher sowohl Dokumentationen als auch Zeugenaussagen über die Misshandlungen gegen die homosexuellen KZ-Häftlinge vor. Dennoch war es für die Gesellschaft so schwierig, dies anzuerkennen, nach einem Grund zu fragen und die
Überlebenden zu entschädigen. Andere Gruppen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer Rasse, ihres Glaubens, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer politischen Stellung verfolgt wurden, erhielten in den Nachkriegsjahren eine Entschädigung, nicht jedoch diejenigen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung misshandelt wurden.

Das Karlsruher Verfassungsgericht erklärte dies 1957 so: „Entscheidend ist nicht, welche historischen Ereignisse zu einer bestimmten moralischen Anschauung führen,
sondern ob diese moralische Anschauung auch als Sittengesetz allgemein anerkannt ist.“ Homosexualität war bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten
und auch nach dem Krieg strafbar. Die Einweisung der dafür Verurteilten in Konzentrationslager war daher lediglich als härtere Strafe für tatsächliche Straftaten zu werten. Keine Kriegsverbrechen. 1972 wurde § 213 des norwegischen Strafgesetzbuches aufgehoben. Der deutsche § 175 wurde 1969 reformiert, aber erst 1994 endgültig abgeschafft.
Hier und da sind kleine Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg zu sehen. Stolpersteine. Wenn Sie nach Flensburg in Deutschland
fahren, finden Sie einen solchen Stein mit Gustavs Namen darauf. Er starb im Januar 1945 im Lager Börgermoor.

Iril Schau Johansen (Übersetzung Peter Drobe)

 

Iril Schau Johansen, die Autorin des Artikels lebt in Voss, Norwegen. Sie ist Mitglied von Åpne Høyre, der Schwesterorganisation der LSU innerhalb der norwegischen
Partei Høyre. Die Autorin dankt den Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution für die Unterstützung und die Bereitstellung der Fotos und Dokumente.

Runar Jordåen und Raimund Wolfert haben die Geschichte von Charles und Gustav aufgedeckt. Mehr über ihre Forschung finden Sie hier: https://www.idunn. no/doi/10.18261/ISSN1504-2944-2015-03-05

Andere Quellen:
Eugen Kogon – Der SS-Staat (1974)
Hilde Harbo, Aftenposten