Die letzte Rettung vor Gewalt

TAGESSPIEGEL | 07.09.2023 | CORINNA VON BODISCO

Deutschlands einzige Krisenwohnung für queere Menschen liegt in Berlin - die Nachfrage ist groß. Die dringend benötigte Vergrößerung ist bisher am angespannten Wohnungsmarkt gescheitert.

Deutschlands einzige Krisenwohnung für queere Menschen liegt in Berlin - die Nachfrage ist groß. Die dringend benötigte Vergrößerung ist bisher am angespannten Wohnungsmarkt gescheitert.

Hamsa ist 21 und schwul. Seine Familie erkennt das nicht an und möchte den jungen Mann zwangsverheiraten. Luis ist queer. Ihre Brüder drohen, sie umzubringen, sollte sie die „Ehre der Familie weiter beschmutzen“. Das sind nur zwei exemplarische Gründe aus dem Spektrum der Gewaltformen, die ausschlaggebend dafür sind, dass Menschen in einer LSBTIQ-Krisenwohnung Zuflucht suchen.

Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es eine Schutzwohnung, die sich speziell an Lesben, Schwule, bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen richtet. Die Projektträger, der Awo-Kreisverband Berlin Spree-Wuhle und der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVB), wollen damit eine Versorgungslücke schließen.

Die schon existierende Krisenwohnung liegt am Stadtrand von Berlin - wo genau, muss aus Schutzgründen geheim bleiben. Aus demselben Grund darf der Tagesspiegel die Bewohner:innen nicht treffen, dafür aber einen der Menschen, auf dessen ehrenamtliche Initiative hin das Projekt 2019 gestartet ist: Christian Meyerdierks.

Auch der Awo-Kreisvorsitzende hat selbst keinen Kontakt zu den Bewohner:innen. Das bleibt den Sozialarbeiter:innen vor Ort sowie der sogenannten „Clearing“-Stelle vorbehalten. Die Erstberatungsstelle von Miles entscheidet darüber, wer in die Wohnung einzieht. Unter dem Namen Miles bietet der LSVD Beratung und Unterstützung für queere Menschen mit Migrationserfahrung an.

„Die Bewohner:innen haben Angst um Leib und Leben, deswegen müssen sie und die Krisenwohnung anonym bleiben“, sagt Meyerdierks. Meist würden sie aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität in ihrem sozialen Umfeld - und zwar nicht nur im engsten Familienkreis - benachteiligt und bedroht oder sie seien körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der 55-Jährige sitzt im Konferenzraum der Awo-Geschäftsstelle, die sich am östlichen Ende der Rigaer Straße in Friedrichshain befindet, direkt neben dem Bahnhof Frankfurter Allee. Seine erste Station bei der Awo begann vor mehr als 20 Jahren, als er das Lesbischwule Parkfest im Volkspark Friedrichshain mit organisierte. Das macht er bis heute. Das kostenfreie Fest findet im Sommer draußen statt.

Schutzwohnung war zunächst für schwule Männer gedachtnn erreichte die Awo eine Anfrage vom LSVD: Es brauche eine Schutzwohnung für schwule Männer. „Die meinten, da gebe es eine Angebotslücke“, erinnert sich Meyerdierks. Als seine Recherche das bestätigte, sei schnell für ihn klar gewesen, „da etwas aktiv tun zu wollen“. Zusammen mit zwei anderen Ehrenamtlichen, darunter sein heutiger Ehemann, und mit dem Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung, erarbeitete er die Konzeption und die Finanzierungspläne für das Projekt. Der Personenkreis wurde unterdessen erweitert. Der Grund: Selbst in Frauenhäusern hätten trans und bisexuelle Frauen teilweise Schwierigkeiten, erläutert Meyerdierks, etwa wenn ihre Körper als „zu männlich“ und damit bedrohlich gelesen würden.

„Im Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün wurde 2016 die Schutz- oder Krisenwohnung benannt, dabei aber die Finanzierung vergessen“, berichtet Meyerdierks. 2018 habe sich die Awo entschieden, eine Wohnung zunächst auf eigene Kosten anzumieten. Erst eineinhalb Jahre später, im Oktober 2019, habe das Land Haushaltsrestmittel bereitgestellt und das Projekt konnte starten. Ende 2021 gewann die Schutzwohnung den Respektpreis des Bündnisses gegen Homophobie.

Heute leben in der Wohnung vier Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden. Die Nachfrage übersteige das Angebot deutlich: Mehr als 50 Anfragen gab es im Jahr 2021, die Hälfte davon waren bundesweite Anfragen.

Die Gründe für die Anfragen werden auch in Form von Zahlen deutlich. Kürzlich stellte der Arbeitskreis „Bekämpfung homophober und transfeindlicher Gewalt“, der sich aus mehreren Behörden und queeren Verbänden zusammensetzt, dem Senat seinen Abschlussbericht vor. Laut „Berliner Register“ hat die Zahl der queerfeindlichen Fälle von Gewalt in diesem Jahr bereits Ende August das Vorjahresniveau erreicht.

Schon 2022 war die Tendenz steigend: Laut der Statistik des Bundesinnenministeriums über politisch motivierte Gewalttaten wurden mit Blick auf die „sexuelle Orientierung“ im vergangenen Jahr mehr als 1000 Straftaten erfasst, das waren 15 Prozent mehr als im Vorjahr.

2024 soll eine zweite Krisenwohnung hinzukommen

Aufgrund der großen Nachfrage soll in Berlin im Frühjahr 2024 eine zweite Schutzwohnung hinzukommen. Für die bestehende Anlaufstelle wird derzeit eine größere Wohnung gesucht. Denn aktuell haben dort nicht alle Bewohner:innen ein Einzelzimmer -die räumliche Ausstattung ermögliche das nicht, sagt Meyerdierks. Dabei bräuchten viele Schutzsuchende gerade jetzt mehr Privatsphäre. Dringend benötigt wird eine Wohnung mit mindestens sieben Räumen, barrierefrei, also etwa mit Aufzug, und mit guter öffentlicher Anbindung.

Doch die bereits zwei Jahre andauernde Suche sei „ein Debakel“, sagt Meyerdierks. „Die Wohnungsmarktsituation in Berlin ist so schwierig, dass wir noch nichts gefunden haben“, bestätigt auch Julia Lopez Sobrino, Miles-Projektkoordinatorin.

Auf die Frage, wie lange die Schutzsuchenden in der Wohnung leben, lautet die Antwort: „einige Monate“. Die Wohnung sei nur eine temporäre Lösung. Ziel sei es, dass die Menschen so bald wie möglich wieder in die Gesellschaft zurückkehren und ein gewaltfreies Leben führen könnten, sagt Lopez Sobrino.

Die Projektkoordinatorin kennt die Bewohner:innen der Schutzwohnung „indirekt“, wie sie sagt. Bei den Erstgesprächen sei sie manchmal dabei gewesen. „Wir schauen, ob wir die passende Möglichkeit für die Person sind. Falls nicht, suchen wir Alternativen“, erläutert sie. So würden die Plätze nicht an Minderjährige oder an Menschen mit illegaler Aufenthaltssituation vergeben. Auch Menschen, die eine dauerhafte psychologische Betreuung brauchten, würden weitervermittelt. Ein kleines Team von Sozialarbeiter:innen begleitet die Bewohner:innen vor Ort im Alltag. Psychologische Betreuung wird hingegen extern abgedeckt. Das Wohnungsprojekt kümmert sich dann um Termine in einem Klinikum.

Oft kämen auch queere Menschen zum Erstgespräch, die von Obdachlosigkeit bedroht seien, berichtet Lopez Sobrino. „Aber unser Angebot richtet sich nur an jene, die von Gewalt bedroht sind oder Gewalt erlebt haben“, erläutert sie. Das können Erfahrungen sein, die im familiären Umfeld passiert sind, aber auch auf der Flucht oder in einer queeren Partnerschaft.

Die Projektkoordinatorin hofft, dass bald eine neue Wohnung gefunden wird. Doch es bräuchte noch viel mehr Schutzwohnungen für queere Menschen. „Die meisten Schutzwohnungen richten sich an Frauen, Kinder und Jugendliche“, sagt Lopez Sobrino. „Menschen aus der LGBTIQ-Community erfahren bisher weniger Aufmerksamkeit.“